Gastbeitrag im Tagesspiegel Background: „Für die integrierte Energiewende“

Link zum Gastbeitrag auf Tagesspiegel Background, 28.04.2021.

Die Finanzierung der Energiewende ist nicht (mehr) das Problem. Wind- und Solarstrom sind die günstigsten Energieformen aller Zeiten. Um wirklich auf einen 1,5-Grad-Pfad zu kommen und das Pariser Klimaabkommen einzuhalten, gilt es die Verhinderungsplanung und Blockaden der großen Koalition zu überwinden. Das fordern die drei grünen Bundestagskandidaten Katharina Beck, Philip Alexander Hiersemenzel und Simon Gabriel Müller in ihrem Standpunkt.

Gute Nachrichten von der Klimafront: 21 Jahre nach Einführung des EEG ist die Finanzierung der Energiewende nicht mehr das Problem. Längst hat auch dir Wirtschaft erkannt, dass die Wind- und Solarenergie nicht nur unsere beste Chance zur Eindämmung der Klimakrise ist, sondern auch das Potenzial hat uns und unsere Industrie dauerhaft mit sensationell günstigster Energie zu versorgen.

Die schlechte Nachricht ist: Nach 16 Jahren schwarz-rot-gelb verkorkster Energiewende inklusive nahezu komplett kollabiertem Ausbau der Erneuerbaren fehlt es hinten und vorne an sauberer Energie. Nicht nur für den klassischen Stromverbrauch, sondern auch zur klimaneutralen Elektrifizierung des Verkehrs und auch Wärmeversorgung von Gebäuden und Industrie. Obendrein verhindert unser mittlerweile über weite Strecken dysfunktionales Energierecht systematisch eine sinnvolle Integration der sauberen, aber fluktuierenden Energie von Sonne und Wind ins Gesamtenergiesystem.

1. Auf in ein neues Energiemarktdesign

Unsere Vision ist eine schnelle, von allen getragene Energiewende, die tatsächlich auf einen 1,5-Grad–Pfad führt. Dazu müssen wir unser Energiesystem in den nächsten zehn bis 15 Jahren fundamental umbauen. Die Technik dafür ist längst vorhanden und verbessert sich mit Siebenmeilenstiefeln immer weiter. Weder die Kosten noch die Finanzierung sind das Problem. Die wahre Herausforderung liegt in der Größe und Komplexität der nötigen Transformation.

Wir glauben die Antwort drauf ist nicht noch mehr, sondern deutlich weniger Komplexität: Statt den Menschen, Unternehmen und sonstigen Energienutzenden immer mehr und immer kompliziertere Vorschriften zu machen, müssen wir alle, die können und wollen, befähigen, den Umbau unseres Energiesystems voranzutreiben. Egal ob Häuslebauer oder Mieter*innen, ob Gewerbe oder Industrie: Geht es nach uns sollen alle mit möglichst geringen bürokratischen Hemmnissen selbst Energie erzeugen – und diese solidarisch mit ihren Nachbar*innen teilen können – egal ob als Strom, oder für Wärme oder Mobilität.

Die Aufgabe des Staates ist es, genau das zu ermöglichen: Durch einfache und klare, vor allem aber durch auf Wind- und Solarenergie ausgerichtete Regeln einerseits. Und durch die Planung einer integrierten Infrastruktur für Backup und strukturelle Ausgleich andererseits.

Als ersten Schritt schlagen wir ein Paket von Sofortmaßnahmen vor, um kurzfristig die Energiewende zu dynamisieren: Ein „Sofortbooster für Aufdach PV“ könnte über gezielte Investitionsanreize den Aufdach-Photovoltaik-Markt in 2022 kurzfristig wiederbeleben. Statt ein Gigawatt (GW) wie 2020 wollen wir den Ausbau in diesem Segment unmittelbar auf erst fünf GW, dann auf zehn GW und schließlich auf 20 GW pro Jahr bringen.

Darüber hinaus brauchen wir eine radikale Vereinfachung des Mieterstroms, die Reform der Flächenausweisung für Wind und verbindliche Regeln für einen Ausbau der Erneuerbaren im Sinne des Naturschutzes – so sind ebenfalls erst fünf GW und in der zweiten Hälfte der 20er Jahre Onshore-Zubauraten von 10 GW machbar. Zudem wollen wir im Falle einer möglichen Regierungsbeteiligung eine den tatsächlichen Kosten entsprechende Neuordnung der Steuern, Abgaben und Umlagen auf Energieträger – angefangen mit einem robusten CO2-Preis. Dazu zählt auch, dass die Netzentgelte endlich die tatsächliche Netzbelastung widerspiegeln.

Diese Maßnahmen sollten schnellstmöglich durch eine zweite Reform-Stufe ergänzt werden. So brauchen wir dringend den Einstieg in die landschaftsverträgliche „Agrar-PV“, also der Möglichkeit, Flächen gleichzeitig für Stromgewinnung als auch landwirtschaftlich zu nutzen. Außerdem müssen wird endlich die Energiewende europäisch denken mit gemeinsamen Projekten zur Nutzung der Windenergie auf See inklusive integrierter Wasserstoff-Erzeugung und eine systematische Verbesserung der paneuropäischen Planungsprozesse für einen zügigen und optimierten Ausbau der Strom- und Wasserstoffnetze.

Dazu muss die Regulierung inklusive EEG und EnWG, die mittlerweile völlig unsinnige Anreize und Verhinderungsmechanismen enthält, generalüberholt werden.

2. Mit der Industrie und allen Branchen

Mit derselben Planungs- und Investitionssicherheit wollen wir auch die Transformation der deutschen und europäischen Schlüsselindustrien ermöglichen. Jeden Monat bekennen sich mehr Unternehmen zum Pariser Klimaschutzabkommen – und richten ihre Strategie auf „Netto-Null“ aus. Dazu brauchen wir innovative Instrumente wie Carbon-Contracts-for-Difference, die Zukunftsinvestitionen absichern – genauso wie eine europäische Lösung für einen CO2-Grenzausgleich.

Nirgendwo ist der Handlungsbedarf jedoch größer als in den Bereichen Gebäudewärme und Verkehr. Um endlich beim Modernisieren mehr Tempo machen zu können, brauchen wir schnellstens eine Fachkräfteoffensive und eine faire Kostenteilung zwischen Staat, Mieter*innen und Eigentürmer*innen damit Klimaschutz und bezahlbares Wohnen Hand in Hand gehen. Und für eine echte Verkehrswende brauchen wir einen bedarfsgerechten ÖPNV und ein leistungsstarkes Schienennetz für Güter und Hochgeschwindigkeitszügen – nicht nur Kaufprämien für E-Autos

3. Märkte und staatliches Handeln intelligent kombinieren

Aber bei aller Leidenschaft für die transformative Kraft der Vielen: Wir können – und dürfen – die Energiewende natürlich nicht privatisieren. Energieversorgung ist Daseinsvorsorge. Und Märkte sind kein Selbstzweck. Wir nutzen Märkte und Preise, um Ressourcen effizient zu verteilen. Es gibt aber Aufgaben, die der Staat deutlich besser kann. In der Energiewende ist das vor allem die Sicherstellung von Infrastruktur-Planung und die Rahmenbedingungen für den Ausbau.

Andersrum ist aber eine funktionierende Infrastruktur eine wesentliche Voraussetzung für das Funktionieren von Märkten. Insbesondere brauchen wir bundes- und europaweit eine integrierte Planung von Strom und Wasserstoff. Regional müssen wir Wärme, Strom und Mobilität viel besser zusammen denken und umsetzen.

Deshalb wollen durch eine Transformationsagentur eine institutionelle Struktur und Prozessorganisation der Infrastrukturplanung für eine schnelle, effiziente und sektorübergreifende Energiewende schaffen. Sie soll die zentralen Energie-Infrastrukturen planen: Übertragungsnetze für Strom und Fernleitungsnetze für Wasserstoff, perspektivisch auch Sicherstellung der Flächenausweisung für Erneuerbare und (sektorenübergreifender) großer Speicher. Und sie soll die Chancen der Digitalisierung endlich wirklich hebeln.

Zudem unterstützt sie die Kommunen in der Erstellung integrierter Energiepläne, fordert solche Pläne aber auch ein. Und bei Bedarf plant sie auch selbst. Aber nur wenn Kommunen selbst nicht liefern können. Übrigens so wie wir Grünen ab Herbst das liefern werden, was die Union nun jahrelang verschlafen hat: einen Neustart für Energiewende und Klimaschutz, der soziale Gerechtigkeit und nachhaltiges Wirtschaften auf die Straße, in die Netze, und die Gebäude bringt.

All das ist heute machbar. Wind- und Solarenergie sind unschlagbar günstig. Je schneller wir sie nutzen, desto besser für den Planten – und für uns alle. Lasst sie uns endlich überall hinbringen. Mit einem echten Aufbruch in eine integrierte Energiewende.

Die Autor*innen

Katharina Beck ist Unternehmensberaterin und Sprecherin der Bundesarbeitsgemeinschaft (BAG) Wirtschaft & Finanzen der Grünen. Sie ist Direktkandidatin in Hamburg-Nord/Alstertal für die Bundestagswahl 2021.

Philip Alexander Hiersemenzel ist Berater für Cleantech-Start-ups, stellvertretender Sprecher der BAG Energie der Grünen und Bundestagskandidat in Berlin.

Simon Gabriel Müller berät international NGOs und unter anderem die Weltbank zu Energiewende und Sektorkopplung, er ist ebenfalls stellvertretender Sprecher der BAG Energie und Bundestagskandidat in Berlin.

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